Partners in Crime: Der deutsche Shibboleth, Israel, Genozid
Karl Marx, ein rebellischer Sohn jüdischer Eltern, sagte einmal, dass die Deutschen in der Politik nur das dächten, was andere schon getan hätten. Seine Bemerkung muss umgedreht werden: Heutzutage tun die Deutschen Dinge, die für andere undenkbar sind. Praktisch jede größere Institution im Land ist damit beschäftigt, Kritiker*innen Israels aufzuspüren, zu schikanieren und zum Schweigen zu bringen. Palästinenser*innen, Muslim innen, People of Color, jüdische Antizionist innen, Schriftsteller*innen, Musiker innen, Dichter*innen, Rapper*innen, Filmemacher*innen - jede*r, die*der es wagt, Israel zu kritisieren oder anzuzweifeln, wird mit dem Vorwurf des „Antisemitismus“ überzogen. Kurz nach dem 7. Oktober bekräftigte Vizekanzler Robert Habeck dieses Muster und gab mit einer scharfzüngigen Presseerklärung den Ton an, in der er betonte, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson (raison d’état) sei. Die „besondere Beziehung“ ergebe sich aus der „historischen Verantwortung“Deutschlands für die Wiedergutmachung des Holocausts durch die Gründung des Staates Israel, erklärte er. „Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung“, schloss er. „Deutschland weiß das.“
Nur wenige Deutsche schienen zu bemerken oder sich dafür zu interessieren, dass Habecks Worte Deutschland praktisch von vergangenen Verbrechen Israels gegen die Palästinenser einnen freisprachen, oder dass sie Netanjahus Regierung de facto das „souveräne“ Recht einräumten, die „Sicherheit“ von Millionen von Menschen zu gefährden, einschließlich der hungernden und verängstigten Palästinenser*innen im Gazastreifen und im Westjordanland sowie der arabischen und jüdischen Bürger*innen, die innerhalb Israels leben.
Und so begann Deutschland unmittelbar nach dem 7. Oktober, ohne großes öffentliches Aufsehen oder Gegenwehr, das Undenkbare zu tun. Im Namen der Bekämpfung des „Antisemitismus“ werden pro-palästinensische Kundgebungen nunmehr regelmäßig von der Polizei aufgelöst. Das Gedenken an die Nakba, das Tragen von Keffiyehs und das Zeigen von palästinensischen Flaggen und Farben werden unterbunden oder verboten. Versammlungen liberaler und linksgerichteter jüdischer Bürger*innen, die Netanjahu ablehnen, werden verboten, weil sie (laut Polizei) von Unruhestifter*innen "palästinensischer Herkunft" missbraucht werden. Springer und andere Unternehmen verlangen von ihren Mitarbeiter innen Loyalitätsbekundungen gegenüber Israel.
Während deutsche Werften Israel seit langem mit atomar bestückbaren U-Booten beliefern, haben sich deutsche Waffenlieferungen an Israel im vergangenen Jahr verzehnfacht. Selbst die deutsche Bundeswehr nimmt Israel in Schutz. Anfang Februar fuhr das Kriegsschiff Hessen ohne Bundestagsmandat von Wilhelmshaven aus in Richtung Rotes Meer, an Bord eine unbestimmte Anzahl von Seebataillonen, die für den Kampf gegen die jemenitische israelfeindliche „Terrormiliz“ Houthi mobilisiert wurden.
Was also sagen deutsche Intellektuelle zu all diesen beunruhigenden Entwicklungen? Fast nichts. Ihre Feigheit ist erschreckend. Es gibt in der Tat mutige Menschen, die es wagen, von der Orthodoxie abzuweichen. Aber selbst wenn sich jene Intellektuellen zu Israels Krieg in Gaza äußern oder sich zu den Grundsätzen von Ethik und Politik äußern, wie es Jürgen Habermas, Rainer Forst und andere vor einigen Monaten getan haben, fungiert ihre erklärte „Solidarität mit Israel“ als ein deutsches Schibboleth, das unzweifelhaft in israelischen Stein gemeißelt ist.
Das althebräische Wort shibboleth (שִׁבֹּלֶת) ist das passende Wort, das hier gebraucht wird. Ein shibboleth ist, wie Leser*innen des biblischen Buches der Richter wissen, ist eine Äußerung, die als Kennwort dient, mit dem sich die Anhänger*innen einer Gruppe oder Sekte von ihren Feind*innen abgrenzen und sie notfalls, wie die biblischen Gileaditer*innen gegenüber den Ephraimiten*innen, ausrotten können. Das Schibboleth "Loyalität zu Israel" ist merkwürdig schwach, aber mächtig stark. Es fungiert als leerer, unbestimmter Indikator, der sowohl inkludierend als auch exkludierend wirkt. Seine semantische Elastizität wird genutzt, um seine Anhänger*innen zu mobilisieren und zu binden, indem Gegner*innen zu Außenseiter*innen und Feind*innen gemacht werden. Infolgedessen wird die Liste der deutschen Institutionen, die schamlos mit dem israelischen Genozid kollaborieren, stets länger, wie die in Berlin ansässige Gruppe Archive of Silence dokumentiert. Schuldzuweisungen sind an der Tagesordnung. Gerüchte und Verdächtigungen herrschen vor. Scheinalibis florieren. Schatten fallen auf Universitäten und andere vermeintlich aufgeklärte, " vernunftorientierte " Institutionen, in denen Fakten, Aufrichtigkeit und Integrität heutzutage nichts mehr zu zählen scheinen.
Loyalität gegenüber Israel ist ein Schibboleth mit mundtot machender Wirkung, wie ich aus erster Hand erfuhr, als ich von Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), wo ich seit 25 Jahren als Forschungsprofessorin tätig war, einen unverschämten Feme-Brief erhielt, in dem sie mich der Sympathie für den "Terrorismus" bezichtigte. In dem Schreiben wurde ich beschuldigt, ein heimlicher Unterstützer einer furchterregenden "terroristischen Organisation" namens Hamas zu sein und mich daher nach deutschem Recht strafbar zu machen. Ich antwortete mit einem Kündigungsschreiben, in dem ich die einseitige, voreingenommene Haltung der Präsidentin gegenüber der Hamas und die unreflektierte Unterstützung der offiziellen, staatlich sanktionierten Definition von "Terrorismus" hervorhob. Ich stellte ihr zwei Fragen: Warum schweigt sie in ihrem Brief zu solch abscheulichen Dingen wie den ununterbrochenen Luftangriffen, der Siedler*innengewalt, der rücksichtslosen Zerstörung von Krankenhäusern, Schulen, Moscheen, Kirchen und Universitäten und den wahnwitzigen israelischen Plänen für die gewaltsame Vertreibung und Aushungerung von Millionen von Menschen aus ihrer alten Heimat? Und warum verweigert das WZB Wissenschaftler*innen ihr Recht, offen zu sprechen, das Unaussprechliche auszusprechen, zu fragen, warum ein Staat, der aus der Asche eines Genozids entstanden ist, nun militärisch auf die " körperliche Zerstörung ganz oder teilweise" (Völkermordkonvention Artikel II C) eines entwurzelten, terrorisierten Volkes, das als Palästinenser*innen bekannt ist, erpicht ist?
Mehr als eine Million Menschen lasen mein Rücktrittsschreiben auf "X" und Facebook; unzählige andere kommentierten und lobten es auf anderen Social-Media-Plattformen; private Nachrichten der Solidarität kamen aus allen Ecken unseres Planeten; und in China, wo meine Arbeit gelesen und diskutiert wird, ging mein Rücktrittsschreiben auf der Lifestyle-Plattform "Little Red Book" (xiǎohóngshū) regelrecht viral. Einige im Ausland lebende Professor*innen forderten Präsidentin Allmendinger und das WZB couragiert auf, sich öffentlich für den unwissenschaftlichen Ton und den beleidigenden Inhalt ihrer Behauptungen zu entschuldigen. Doch sie blieb stumm. Scheinbar unbeeindruckt von dem barbarischen und terroristischen Verhalten der aktuellen israelischen Regierung, folgten die Professor*innen und Wissenschaftler*innen des WZB ihrem Beispiel. Sie legten ihre Stifte beiseite, klappten ihre Laptops zu und verschränkten die Arme. Ihre Argumentation? Vielleicht: lieber nichts tun, als Schmach, Schande und Arbeitslosigkeit zu riskieren. Oder vielleicht ist ihr Schweigen (wie der bekannte deutsche Philosoph Karl Jaspers vor langer Zeit voraussagte) die überhebliche Selbstgerechtigkeit von Menschen, die davon überzeugt sind, dass die Schuldbekenntnisse ihrer Eltern zu vergangenen Verbrechen und ihre eigene bedingungslose Loyalität zu Israel ihnen Absolution erteilen. Oder noch urtümlicher: sich der Deutschen Volkskunde anzupassen. Lieber falsch als anders sein. Respektiere und beuge dich den Regeln der „politischen Gleichschaltung“. Sei stolz darauf, Deutsche*r zu sein. Was auch immer die Seele beruhigt, ist Wahrheit.
Es ist bekanntlich schwierig, dem Schweigen einen Sinn zu geben, aber was man mit Sicherheit sagen kann, ist, dass das feige Schweigen eines der renommiertesten Forschungsinstitute Europas typisch für die Grundstimmung in einem Deutschland ist, das von einem Schibboleth bestimmt wird, dessen Wurzeln bis in die Adenauerzeit der 1950er Jahre zurückreichen und das heutzutage fatale politische, rufschädigende, rechtliche und moralische Folgen hat. Deutsche Jüdinnen und Juden, deren Glaube sie zur Kritik an Israel bewegt, fühlen sich unterdrückt; es ist, als gehörten sie nicht in ein Land, das für sich in Anspruch nimmt, für die Vernichtung von Jüdinnen und Juden in der Vergangenheit zu büßen. Perverserweise nährt das Lob der deutschen Bundesregierung für Israels unnachgiebige Haltung gegen "Terrorismus" und "islamischen Extremismus" die Zustimmung zur bekennend pro-israelischen, ausländerfeindlichen, rechtsextremen und populistischen AfD, die von rund 20 % der Wähler*innen befürwortet wird und inzwischen in 15 von 16 Landesparlamenten vertreten ist. Auch dem Ansehen Deutschlands, der deutschen Bevölkerung und deutscher Werte wird weltweit enormer Schaden zugefügt. Die Bemühungen der letzten Generation, das Land von faschistischem Denken und Gesinnung zu befreien, indem sie sich von Schuld und Scham reinwusch, waren beeindruckend. Innerhalb weniger Monate wurden weltweit sämtliche Bemühungen durch törichte Erklärungen der bedingungslosen Loyalität gegenüber Israel zunichte gemacht. Durch die Billigung der selbstzerstörerischen Grausamkeit Israels nützt der selbstverschuldete moralische Bankrott Deutschlands keinem der beiden Staaten. Der Schaden, den der deutsche Schibboleth anrichtet, hat auch juristische Konsequenzen, wie Nicaragua vor dem Internationalen Gerichtshof demonstriert, indem es Deutschland wegen "Beihilfe zum Völkermord" verklagt, da es Israel Waffen verkauft und die Hilfen für das palästinensische UN-Flüchtlingswerk (UNRWA) gekürzt hat.
Am tragischsten, wenngleich am wenigsten offensichtlich, ist, dass der deutsche Schibboleth Zweifel an der großartigen Erzählung von der Legitimation des deutschen Staates weckt. In der Präambel des Grundgesetzes heißt es, dass "das deutsche Volk" das Fundament der Bundesrepublik sei, aber die unbequeme Wahrheit ist, dass der deutsche Schibboleth als Erinnerung an das dient, was W.G. (Max) Sebald, einer der größten Schriftsteller der Nachkriegsgeneration, das " wohlgehütete Geheimnis" von Deutschlands bemerkenswertem Wiederaufschwung nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nennt. Das Geheimnis ist schmutzig: In den Fundamenten des deutschen Staates liegen die Millionen von Leichen des nationalsozialistischen Völkermordes begraben, die Vergeltungsschläge der Alliierten auf deutsche Städte, die 600.000 Zivilist*innen töteten und mehr als sieben Millionen Menschen obdachlos machten, und ein früherer Völkermord an den Herero und Nama in der Kolonie Südwestafrika - der erste Genozid des 20. Jahrhunderts, der erst kürzlich widerwillig von deutschen Politiker innen anerkannt wurde, bisher jedoch ohne Angebote zur Entschädigung oder Wiedergutmachung für die Opfer. Und nun kommt ein weiteres Geheimnis in all seiner Scheußlichkeit ans Tageslicht: eine Beteiligung an einem Völkermord, bei dem sich die Fundamente des deutschen Staates mit den Leichen abertausender unschuldiger palästinensischer Frauen, Kinder und Männer vermischen, die sich nur nach einer besseren Zukunft sehnten, befreit von den Ketten rassistischer Erniedrigung, kolonialer Ungerechtigkeit, von organisiertem Hunger und Mord.